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Titel
Hellenistic Democracies. Freedom, Independence and Political Procedure in some East Greek City-states


Autor(en)
Carlsson, Susanne
Reihe
Historia-Einzelschriften 206
Erschienen
Stuttgart 2010: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
372 S.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Grieb, Alte Geschichte, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg

Die Demokratie im Hellenismus ist gegenüber derjenigen der klassischen Zeit bis vor kurzem ein nur in wenigen, zumeist kurzen Beiträgen behandeltes, keineswegs aber eingehend und umfangreich analysiertes Forschungsfeld gewesen.1 Susanne Carlsson kommt das Verdienst zu, mit ihrer Dissertationsschrift aus dem Jahre 2005 an der Universität Uppsala die erste Monographie zu dieser Thematik vorgelegt zu haben, die nunmehr in einer überarbeiteten und leicht gekürzten Fassung in der Reihe „Historia-Einzelschriften“ erneut publiziert worden ist. Die Veröffentlichung in einer Publikationsreihe mit einem weiten Verbreitungsgrad ist der wissenschaftlichen Bedeutung dieser Thematik durchaus angemessen. Leider blieben jedoch bei der Überarbeitung die seit 2005 erschienenen Beiträge unberücksichtigt, so dass die Arbeit letztlich dem Forschungstand zur Zeit ihrer Erstpublikation entspricht.

Carlsson gliedert ihre Untersuchung in sieben Kapitel (S. 13–285), denen ein kurzer, abschließender Epilog (S. 287–293), drei Appendizes2, eine Bibliographie sowie die gängigen Indizes folgen. Sie konzentriert sich in der Untersuchung vor allem auf Stadtstaaten der östlichen Ägäis und des angrenzenden kleinasiatischen Festlandes. Mit Fallstudien zu Iasos, Kalymnos, Kos und Milet werden – insbesondere in dem umfangreichen siebten Kapitel der Arbeit – vier Stadtstaaten eingehender behandelt, wobei zahlreiche Belege und Beispiele aus diesen Poleis auch in den übrigen Kapiteln angeführt werden, diese Städte somit den Kern der gesamten Untersuchung ausmachen.

In den beiden ersten, einleitenden Kapiteln skizziert Carlsson zunächst die Quellenlage und führt die Methode ihrer Untersuchung aus. Es ist vor allem das umfangreiche epigraphische Quellenmaterial, das sie ihrer Analyse der hellenistischen Demokratie zugrunde legt und aufgrund dessen sie die naheliegende und für sie zugleich zentrale Frage zu beantworten versucht: „if the democratic formulas in the classical period revealed democratic government, how can we know that this was not also the case in later periods?“ (S. 17). Um eine genauere Bestimmung des Demokratiebegriffes zu erreichen, werden von Carlsson eingangs antike Vorstellungen und Definitionen der Demokratie in knapper Form diskutiert und den modernen Demokratiedefinitionen gegenübergestellt. Für die Antike bezieht sie sich insbesondere auf die Überlegungen zu demokratischen Verfassungen von Aristoteles und Polybios, während sie für die Moderne vor allem auf Demokratiedefinitionen des Politologen Robert Dahl zurückgreift.

In den Kapiteln 3 bis 5 (S. 61–147) behandelt Carlsson Fragen zu Autonomie und Souveränität von antiken Stadtstaaten, wobei sie zunächst wiederum diesbezügliche antike und moderne Überlegungen und Definitionen diskutiert (Kapitel 3). Sie gelangt hierbei zu dem Ergebnis, dass eine klare inhaltliche Trennung von „autonomy, independence and sovereignty“ für beide Zeiten nicht zu erreichen sei, jedoch hält sie „an ancient concept of sovereignty“ für sehr wahrscheinlich (S. 78f.). Daran anknüpfend legt Carlsson mit „Autonomia in Practice“ (Kapitel 4) eine Analyse der Begriffsbedeutung von autonomia und eleutheria für den westkleinasiatischen Raum und den angrenzenden Ägäis-Bereich vor, wofür sie die Belegstellen systematisch auflistet und – dies gilt es besonders hervorzuheben – nach der jeweiligen, den Begriffsverwendungen zugrundeliegenden Perspektive unterscheidet.3 Carlsson gelangt bei dieser regionalen Analyse unter anderem zu dem Ergebnis, dass die großen hellenistischen Monarchien die dortigen Stadtstaaten zunächst als autonomos bezeichneten, dass aber ab etwa der Mitte des 3. Jahrhunderts v.Chr. der Begriff eleutheros bevorzugt wurde, während die Stadtstaaten für sich selbst den Begriff autonomos noch bis in die spätere hellenistische Zeit anführen. Im fünften Kapitel werden weiterhin die zwischenstaatlichen Beziehungen der regionalen griechischen Stadtstaaten untereinander, die Beziehungen zwischen den dominierenden Monarchien und den untersuchten Stadtstaaten sowie in einer Fallstudie der Konflikt zwischen Samos und Priene mit seinen überregionalen Verflechtungen diskutiert.

Das sechste Kapitel umfasst abermals methodische Fragen, nunmehr zu den Aussagemöglichkeiten der epigraphischen Quellen, die den nachfolgenden Fallstudien zu Iasos, Kalymna, Kos und Milet zugrunde liegen, während im umfangreichen siebten Kapitel (S. 161–285) – gewissermaßen der Kern der gesamten Untersuchung – die Verfassungen der vier angeführten Stadtstaaten vorgestellt und diskutiert werden. Diese Fallstudien behandeln in einheitlicher Gliederung zunächst den Zusammenhang von Unabhängigkeit und Demokratie im Kontext der Außenpolitik, dann die politische Gliederung der Polis und deren zentrale politische Ämter sowie schließlich den Bereich der jeweiligen Beschlussfassung. Am Ende des Kapitels werden die wesentlichen Ergebnisse der einzelnen Fallstudien unter etwas veränderten, übergreifenden Aspekten zusammengefasst. Hinsichtlich der zwischenstaatlichen Beziehungen hebt Carlsson die trotz der Dominanz der großen Territorialstaaten weiterhin bestehenden und auch umfangreich genutzten diplomatischen Möglichkeiten der einzelnen Stadtstaaten hervor. Indem sie die autonomia und eleutheria zugleich als Zugeständnisse der dominierenden Könige sieht, wirft Carlsson jedoch zugleich die von ihr unberücksichtigte Frage nach dem Grad der städtischen Unabhängigkeit auf. Bezüglich der Versammlung der Bürger innerhalb der Polis, der ekklesia, diskutiert Carlsson die Häufigkeit ihres Zusammentreffens, die Entscheidungsfindung und die Wahl der Amtsträger als wesentliche Aspekte einer demokratischen Praxis. Sie gelangt dabei zu dem Ergebnis, dass diese Aspekte im einzelnen wie auch in ihrer Gesamtheit eine in der Praxis angewendete demokratische Verfassung annehmen lassen. Eine wesentliche Veränderung der Demokratie innerhalb der hellenistischen Zeit konstatiert sie für die vier Poleis schließlich mit der sich etablierenden römischen Dominanz im 2. Jahrhundert v.Chr. im griechischen Osten. Während vorangehende Dekrete vor allem außenpolitische Entscheidungen der Bürgerschaft zum Gegenstand hatten, wurden unter der römischen Dominanz zumeist nur noch Beschlüsse gefasst, die im wesentlichen innenpolitische Zusammenhänge betrafen, wobei zugleich die Anzahl der Dekrete in dieser Zeit deutlich abgenommen habe. In beiderlei Hinsicht könne somit eine signifikante Veränderung zu den vorangehenden demokratischen Formen aufgezeigt werden.

Mit den angeführten außen- und innenpolitischen Zusammenhängen berücksichtigt Carlsson in ihrer Untersuchung wesentliche Aspekte einer stadtstaatlichen Demokratie, die nicht zuletzt auch eine Beurteilung des Einflusses der großen hellenistischen Territorialstaaten ermöglichen und somit die im Unterschied zur klassischen Zeit erheblich veränderten Rahmenbedingungen dieser Epoche einbeziehen. Hinsichtlich der von Carlsson zugrunde gelegten Methode wie auch hinsichtlich der Einordnung ihrer Arbeit in die bisherige Forschung zu den hellenistischen Stadtstaaten sind allerdings einige kritische Punkte anzumerken: So bleibt die Problematik reicher und einflussreicher Personen innerhalb der Gemeinwesen, der sogenannten Honoratioren, in dieser Arbeit unberücksichtigt, obwohl in der Forschung zu diesem zentralen gesellschaftspolitischen Aspekt eine umfangreiche Diskussion geführt wurde, die nicht zuletzt direkt auch die Beurteilung einer hellenistischen Demokratie betrifft. Für Rhodos ist beispielsweise hinlänglich betont worden, dass dort nach formalen Kriterien sowie aus der Sicht antiker Autoren eine politische Organisation bestand, die mit einer demokratia gleichzusetzen ist. Darüber hinaus darf Rhodos für nahezu die gesamte hellenistische Zeit auch als freies und autonomes Gemeinwesen angesehen werden. Gleichzeitig gilt aber gerade diese Polis in der Forschung häufig als eines der signifikantesten Beispiele derjenigen Stadtstaaten, die trotz ihrer demokratia von einer kleinen aristokratischen Elite dominiert wurden.4 Folgt man also der bisherigen Forschung, so muss letztlich ein ganz ähnlicher Zusammenhang auch für die von Carlsson untersuchten, Rhodos zugleich benachbarten Stadtstaaten angenommen werden, so dass sich die naheliegende Frage aufdrängt, in welcher Abhängigkeit eine solche Elite von den politischen Institutionen stand und welche Schlüsse daraus wiederum für die politische Rolle einer Honoratiorenschicht innerhalb einer demokratia zu ziehen sind.5 Beides bleibt von Carlsson unberücksichtigt. Neben diesen Aspekten wäre für eine Beurteilung einer Demosherrschaft hinsichtlich der polisinternen Strukturen und Zusammenhänge außerdem genauer zu bestimmen, inwieweit die ekklesia überhaupt eine beherrschende Entscheidungsgewalt besaß und – daran anschließend – in welcher Abhängigkeit die zentralen politischen Ämter von der ekklesia standen.

Da die politische Organisation auch in römischer Zeit in ganz ähnlicher Form fortbestand, Carlsson für diese spätere Zeit aber wesentliche Veränderungen hinsichtlich der Beschlussgegenstände und der Beschlussveröffentlichung konstatiert, wäre weiterhin die Frage nach den Auswirkungen einer außenpolitischen Dominanz auf die innenpolitischen Verhältnisse schon in der vorangehenden hellenistischen Zeit – etwa durch hellenistische Herrscher – naheliegend gewesen, zumal Carlsson im ersten Abschnitt die Begriffsbedeutung autonomia und eleutheria sowohl aus der Perspektive der Herrscher als auch aus der der Poleis ausführlicher bespricht und grundsätzlich eine gewisse Dominanz der hellenistischen Herrscher voraussetzt. Der Zusammenhang von außenpolitischer Beeinflussung und innenpolitischen Verhältnissen wird somit im Fall der Veränderungen unter Rom berücksichtigt, im Fall der vorangehenden hellenistischen Zeit hingegen nicht. Methodisch wie auch inhaltlich wäre es weiterhin wünschenswert gewesen, die bei der Begriffsanalyse von autonomia und eleutheria durchaus historisch sehr gewinnbringend angeführte Perspektivendifferenzierung konsequenter auch im Bereich der politischen Praxis und nicht zuletzt auch bei der von Carlsson nur ganz rudimentär behandelten Frage, wer denn eigentlich genau der demos war, der das kratos besessen haben soll, anzuwenden.

Insgesamt bietet Carlssons Untersuchung einen systematischen Zugang zu der komplexen Problematik der demokratischen Polisverfassungen in hellenistischer Zeit. Sie führt zahlreiche Demokratieaspekte an und diskutiert diese für die ausgewählten Beispiele der ostgriechischen Stadtstaaten Iasos, Kalymnos, Kos und Milet ausführlich. Grundsätzlich vermag die von ihr konstatierte Veränderung der politischen Praxis unter der römischen Dominanz um die Mitte des 2. Jahrhunderts v.Chr. ebenso zu überzeugen wie die für die vorangehende hellenistische Zeit beobachtete Ausprägung einer auch in der politischen Praxis etablierten demokratia. Bei einer genaueren Betrachtung der Thematik und ihrer Beurteilung sind jedoch einzelne Untersuchungsaspekte mitunter argumentativ nur schwach aufeinander bezogen und einige wesentliche Fragen unberücksichtigt geblieben. Da es sich jedoch – wie eingangs erwähnt – um die erste systematische und umfangreiche Untersuchung zu dieser Thematik handelt, geht die Arbeit weit über vorangehende Forschungsergebnisse hinaus und eröffnet aufgrund der zahlreich berücksichtigten Demokratieaspekte zugleich neue Untersuchungsfelder, so dass diese Publikation insgesamt als Ausgangspunkt und breite Grundlage für eine zukünftige Beschäftigung mit dem bislang weitgehend unberücksichtigten Problemfeld der hellenistischen Demokratie dienen wird.

Anmerkungen:
1 Anders Hans-Ulrich Wiemer, Rezension zu dem vorliegenden Werk, in: Sehepunkte 10 (2010) Nr. 9.
2 Die Appendizes umfassen drei systematische Zusammenstellungen. Zunächst werden die hellenistischen Dekrete aus den vier Stadtstaaten, die als Fallbeispiel herangezogen wurden, aufgelistet, darauf folgt eine Übersicht über die belegten Amtsträger dieser vier Stadtstaaten in hellenistischer und römischer Zeit, und im dritten Appendix finden sich in chronologischer Reihenfolge die epigraphischen Belege zu demokratia aus der hellenistischen Zeit für den Raum der kleinasiatischen Westküste mit dem angrenzenden Ägäisbereich.
3 Vgl. dagegen John Ma, Antiochos III and the Cities of Western Asia Minor, 2. Aufl., Oxford 2002, der eine solche Differenzierung für seine Beurteilung unberücksichtigt lässt.
4 Vgl. dazu Vincent Gabrielsen, The Naval Aristocracy of Hellenistic Rhodes, Aarhus 1997 (mit weiterer Literatur). Zur Bezeichnung der rhodischen Verfassung als demokratia siehe Diod. 20,93,7 mit 20,81,2 und Cic. de rep. 1,31,47; 3,35,48.
5 Umgekehrt gilt für die zahlreichen und teils sehr umfangreichen Untersuchungen zu den „Honoratioren“ beziehungsweise der „Elite“ in den hellenistischen Stadtstaaten, dass in diesen Arbeiten die wesentlichen Fragen und Problemfelder einer demokratischen Verfassung zumeist gänzlich unberücksichtigt geblieben sind.

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